Speech delivered at the conference “Challenging Capitalist Modernity II: Dissecting Capitalist Modernity–Building Democratic Confederalism”, 3–5 April 2015, Hamburg. Texts of the conference are published at http://networkaq.net/2015/speeches


Reimar Heider ist Arzt und Menschenrechtsaktivist. Er ist einer der Sprecher der Internationalen In-itiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« und Übersetzer mehrerer Bücher Ab-dullah Öcalans.

Eröffnungsrede im Namen des Organisationskomitees

Liebe Gäste, liebe Vortragende, liebe Helferinnen und Helfer,

im Namen des Organisationskomitees möchte ich Sie ganz herzlich zu unserer zweiten Konferenz willkommen heißen.

Vor vier Jahren fand sich eine Reihe von Gruppen zusammen, um das Netzwerk »Network for an Alternative Quest« aus der Taufe zu heben. Zweck des Netzwerkes war die Durchführung von Konferenzen – was wir nun auch schon zum zweiten Mal tun.

Wir kannten die Diskussionen, die in der kurdischen Linken und in der kurdischen Gesellschaft seit Anfang der 2000er Jahre geführt wurden, und wussten gleichzeitig, dass sehr wenig davon au-ßerhalb kurdischer Kreise bekannt ist. Wir wollten einerseits auf Konzepte wie den demokrati-schen Konföderalismus aufmerksam machen. Andererseits wollten wir die innerkurdische Diskus-sion durch einen Austausch mit anderen fortschrittlichen Bewegungen befruchten. Wir glauben, das uns das mit unserer ersten Konferenz 2012 gelungen ist. Die Beiträge der Konferenz sind frisch als Buch erschienen und können darüber hinaus noch immer im Internet als Videos abge - rufen werden.

2012 versuchten wir, Begriffe wie demokratische Autonomie in die Diskussion einzuführen. Heu-te, drei Jahre später, erleben wir ein explodierendes Interesse an diesen Begriffen. Viel davon hat mit den Entwicklungen Rojava zu tun, einer Praxis, die mehr über diese Konzepte aussagt, als wir in einer Konferenz darzustellen vermögen. Viele der hier Anwesenden sind in der letzten Zeit nach Kurdistan gereist und können ihre Eindrücke mit ihren theoretischen Einsichten verbinden. Auf diese Kombination kommt es uns an.

Einige haben sich über das Symbol unseres Netzwerks gewundert, die Triskele. Auf den ersten Blick zeigt die Triskele drei sich windende Pfade, die miteinander verbunden sind. Es gibt keinen direkten, keinen einfachen Lösungsweg. Es ist eine suchende und langsame Bewegung nach au-ßen. Damit symbolisiert es die Natur unserer Suche. Das Symbol hat allerdings auch eine lange Geschichte. Es wurde in Newgrange in Irland entdeckt, eingraviert in ein Megalithbauwerk. Die-ses Bauwerk entstand vor rund 5000 Jahren, lange bevor in diesem Teil der Welt staatliche Zivili-sationen entstanden – und damit ist es eines der ältesten Bauwerke der Welt. Die Debatte über die Werte und sozialen Strukturen von Gesellschaften, die noch kein Klassensystem kannten, taucht im Kontext der politischen Diskussionen über Kurdistan immer wieder auf – eine weitere Verbindung zu unserer Konferenz.

Zwei Themenkomplexe fanden wir 2012 nicht ausreichend behandelt: Patriarchat und Frauenbe-freiung sowie Wirtschaft. Wir haben in diesem Jahr mehr Referentinnen und Referenten zu die-

sen Themen eingeladen und hoffen auf interessante Vorträge und spannende Diskussionen.

In fünf bzw. sechs Sessions möchten wir uns von Theorie zu Praxis, von Analyse zu Umsetzung und von abstrakt zu konkret bewegen. Zunächst soll es in Session 1 um die Analyse, das »Sezie-ren« des Kapitalismus gehen. Als Alternative möchten wir in Session 2 Überlegungen zur demo-kratischen Moderne präsentieren. In Session 3 geht es dann endlich um Alternativen in der Öko-nomie. Session 4 soll sich mit Themen beschäftigen, von denen wir glauben, dass der kurdische Linke Diskurs Antworten auf Fragen erarbeitet hat, die weltweite Relevanz besitzen. Zweifellos wir hier die Frauenbefreiung – die ja auch eine Befreiung der Männer aus dem Patriarchat bedeu-tet – eine wesentliche Rolle spielen. In der großen Session 5, die wir in 5a und 5b unterteilt ha - ben, stehen dann praktische Erfahrungen aus allen vier Teilen Kurdistans uns weltweit im Mittel-punkt.

In einem Punkt geht die diesjährige Konferenz bereits jetzt über ihre Vorgängerin hinaus. Statt ei-ner Simultanübersetzung in vier Sprachen bieten wir diesmal sechs Sprachen an: Zu Deutsch, Englisch, Kurdisch und Türkisch sind Spanisch und Italienisch hinzugekommen. An dieser Stelle gilt schon jetzt unser ganz besonderer Dank unserem transnationalen Dolmetscher-Team. Ihr macht durch eure Arbeit diese Konferenz erst möglich, vielen Dank!

Eine weitere Neuerung dieser Konferenz möchte ich ebenfalls erwähnen. Wir haben Ende letzten Jahres einen sogenannten »Call for Papers« gemacht. Damit wollten insbesondere Studierende animieren, sich akademisch mit verschiedenen Themen auseinanderzusetzen. Aus den Texten, die unter anderem von Studierenden, Akademiker_innen und politischen Gefangenen eingereicht wurden, hat eine Kommission fünf ausgewählt, die in diesen Tagen auf der Konferenz präsentiert werden. Ein derartiger »Call for Papers« soll fester Bestandteil weiterer Konferenzen werden.

Wir alle werden in den nächsten Tagen Begriffe hören, die für uns neu sind. Ob diese aus der fe-ministischen Theorie stammen, oder aus dem Diskurs um die Commons, aus der mittelöstlichen Geschichte oder aktuellen Diskussionen aus Lateinamerika oder Kurdistan. Wir hoffen, viele Denkanstöße zu bekommen, interessante Diskussionen zu führen und Brücken zu schlagen zwi-schen Intellektuellen und Aktivisten, Menschen aus vielen Gegenden der Welt, Frauen und Män-nern, die auf unterschiedliche Weise um Befreiung kämpfen. Manche konnten nicht anreisen, weil Staaten ihnen ein Visum verweigerten, andere sind aus anderen Gründen verhindert.

Eine Person möchte ich in diesem Zusammenhang besonders erwähnen. Er feiert morgen seinen 66. Geburtstag, wenn wir denn von »Feiern« reden möchten. Abdullah Öcalan sitzt seit über 16 Jahren in Isolationshaft auf einer Gefängnisinsel, seit beinahe vier Jahren kann er keinen Besuch von seinen Anwältinnen und Anwälten mehr empfangen. Trotzdem ist es ihm gelungen, in diesen Jahren durch seine Schriften weiterhin viele Menschen für den Kampf um Befreiung zu inspirie-ren. Das gilt besonders für den Widerstand in Rojava und Kobanê, aber auch für viele der hier Anwesenden. Wir freuen uns deshalb, heute eine Vorab-Ausgabe der englischen Übersetzung ei-nes seiner neuesten Bücher präsentieren zu können.

Die Kampagne für seine Freiheit und die Freiheit der politischen Gefangenen in der Türkei hat bis Februar dieses Jahres mehr als 10.3 Millionen Unterschriften gesammelt. Je weiter der politi-sche Prozess voranschreitet, desto dringlicher wird diese Freiheit auf die Tagesordnung kommen. So sind wir zuversichtlich, in einer der nächsten Konferenzen Abdullah Öcalan persönlich als Redner begrüßen können.

Dank der Delegation von Abgeordnete der HDP konnten wir von Abdullah Öcalan eine Gruß-botschaft für diese Konferenz erhalten, die wir nun vortragen möchten.

Ich wünsche uns allen eine interessante und inspirierende Konferenz. Vielen Dank.